#1 Wohlbefinden, Hedonismus, Lebenssinn, oder …? Was brauchen wir wirklich für ein glückliches, sinnvolles und erfülltes Leben?

Selbstorganisation des inneren Erlebens ‒ das Attraktormodell der Synergetik im Bereich der Psychologie

August 1, 2022

Was bedeutet es, glücklich zu sein? Dem Hedonismus, der Jagd nach den Lebensgenüssen, zu frönen oder eher die eigene Einstellung und die persönlichen Werte auf ihr Glückspotenzial hin abzuklopfen? Und: Welchen Einfluss habe ich selbst auf mein Glücklichsein? Einfach die Glücksfälle des Lebens abwarten, die da kommen (oder auch nicht)? Mich im Dschungel der Vergnügungen und Sinnesgenüsse auf die große Jagd begeben? Mehr Spaß, mehr Geld, mehr Karriere, mehr, mehr, mehr …? Oder ist ein erfülltes Leben am Ende doch etwas ganz anderes?

Stell dir vor, du wachst eines Tages auf und eine gute Fee hat mit einem Schlag alle lästigen Routinen und Verpflichtungen aus deinem Alltag weggezaubert. Du kannst frei entscheiden, was du ab sofort tun und wofür du leben willst. Einzige Bedingung: du musst zuvor klären, was das ist und dich für eine gewisse Zeit darauf festlegen. 

Also: gehe einen Moment in dich und finde heraus, wie du dein Leben bis auf Weiteres verbringen würdest, wenn du könntest. Was würdest du tun? Welche Wünsche würdest du dir erfüllen, welchen Bedürfnissen nachkommen, welche Ideen oder Pläne realisieren wollen?

Und prompt sehe ich vor meinem geistigen Auge ein Feuerwerk verschiedenster möglicher Antworten explodieren: vom „nur noch tun, worauf ich spontan Lust habe“ oder „mich endlich meiner Leidenschaft für … widmen“ bis hin zur (juhuu) endlich möglichen Weltreise, dem (aaaah) meditativen retreat, dem sozialen Engagement (nur die action bringt satisfaction) oder dem verrückten Sehnsuchtsprojekt alter Tage (sollte das wirklich noch wahr werden?) oder … oder …

Ich sehe einen Himmel voller sprühender, bunter, leuchtender Wünsche, Sehnsüchte, Ideen, Überlegungen, Pläne. Und beobachte, wie alles, was da oben so zischt, sprüht und leuchtet, wieder herunter auf die Erde sinkt und dort, wie magnetisch angezogen, auf einem von zwei Haufen landet: Entweder dem Haufen, der mit dem Glück in allen seinen Spielarten zu tun hat ‒ dem “Glückshaufen” also ‒ oder dem zweiten, dem “Sinnhaufen”, auf dem sich alle Vorstellungen sammeln, die mit der Sinnfrage zu tun haben. 

Was findet sich wohl alles im Glückshaufen? Schauen wir mal nach.

Was ist Glück? Was bedeutet “glücklich sein”? Wie hängt Glück mit Wohlbefinden und Lebensfreude zusammen?

Was also löst diese ganz spezielle Freude bzw. Lebensfreude aus, die für eine Person, die sich glücklich fühlt, so charakteristisch ist?

“Glück” ist ein schillernder Begriff und hat letztendlich für jeden Menschen seine ganz eigene, subjektive Bedeutung. Aber auch in seiner objektiven Bedeutung kann er für sehr Unterschiedliches stehen. Die folgende Abbildung zeigt die wichtigsten Formen des Glücks in Bezug auf bestimmte Lebenserfahrungen in einem Überblick:

Übersicht: Hedonismus, Eudaimonie, Sinn und Erfüllung im Zusammenhang

Zufallsglück

Das Zufallsglück, auch episodisches Glück genannt, ist die von unserem Handeln völlig unabhängige Form des Glücks. Wir “haben” Glück ‒ oder auch nicht, dann ist es fehlendes Glück oder gar Unglück. Das Zufallsglück ereignet sich, bewirkt etwas in unserem Leben und lässt uns irgendwo in diesem riesigen Spektrum zwischen sich glücklich und unglücklich fühlen zurück ‒ sei es im Glückstaumel nach dem vielfach ersehnten Lottogewinn oder in einer vorübergehenden Verzweiflung nach einem herben Verlust. 

Wir sind in jedem Moment unseres Lebens ‒ nicht nur, aber auch ‒ abhängig von Umständen und Ereignissen, die wir nicht in der Hand haben. Insofern spielt dieses von außen kommende Glück oder Unglück tatsächlich eine beträchtliche Rolle ‒ jedoch bei weitem nicht die einzige. Denn wir können eine ganze Menge tun oder nicht tun, um den Zustand bzw. die Verlaufskurve unseres Glücks zu beeinflussen. Wir sind schon von Natur aus so angelegt, dass wir instinktiv, fast unentwegt und mit hoher Priorität dafür sorgen, dass es uns möglichst gut geht, dass wir uns wohlfühlen und Zustände des Unwohlseins oder Schmerzes möglichst vermeiden können.

Hedonismus: Die Jagd auf das Wohlfühlglück 

Damit sind wir beim Wohlfühlglück angelangt, das in der Glücksforschung auch das “hedonistische Glück” genannt wird: eine Qualität von Glück, die, tief in unserer Natur verankert, bereits von alleine funktioniert: essen, trinken, sinnliche Genüsse, faulenzen, Naturerleben, kuscheln, Sex etc. Die aber auch kultiviert und entwickelt, d.h. mit Mühe und Investitionsaufwand auf ein höheres Genussniveau gebracht werden kann: Musik, Leistungssport, Interessen/Leidenschaften und vieles mehr. Dieses hedonistische Glückserleben können wir uns aus einem schier unbegrenzten Spektrum an Möglichkeiten verschaffen, z. B. gesundheitsbewusst (Bewegung, Natur) oder auch weniger gesund (als Couch-Potato oder Drogen missbrauchend). Und wir können es in sehr unterschiedlichen Qualitäten zelebrieren: zwischen einer eher drögen “fressen-saufen-ficken”-Mechanik und einem fantastischen Essen mit einem Wein, für den man sterben könnte, gefolgt von einer beglückenden Liebesnacht, können Welten der Genusskultur liegen. 

Das Wohlfühlglück zielt auf ein angenehmes, lust- und genussreiches Leben ab, einschließlich der Vermeidung von Schmerz und Unlust. Kurz: auf die Kombination von möglichst viel Genuss mit möglichst wenig unangenehmen Erleben.

Grenzen des hedonistischen Glücks

Dies verleiht dem “Hedonismus” auch einen negativen Beigeschmack, nämlich: oberflächlich von einem Genuss zum nächsten zu jagen oder die Genüsse rücksichtslos und ausschließlich selbstbezogen abzuschöpfen. 

Das große und fast unvermeidliche Problem mit dem hedonistischen Genuss ist jedoch ein anderes: Genüsse ‒ für sich bestehend, um ihrer selbst willen ‒ nutzen sich schnell ab. Die Glücksforschung spricht in diesem Zusammenhang von einem  “Kompensationseffekt”: wir gewöhnen uns schnell an verfügbare Genüsse, die hohe Genussqualität hält jedoch nur kurz an, wird von Mal zu Mal weniger und die Genussquelle langweiliger.

Was wiederum dazu führt, dass wir mehr wollen, die Dosis erhöhen und uns im Hamsterrad des “mehr, besser, höher, schneller, weiter” wiederfinden: in einer eskalierenden Spirale von “immer mehr wollen -> immer weniger bekommen -> deshalb noch mehr wollen …”  ‒ bekannt aus der Sucht, aber auch, mehr oder weniger dramatisch, aus dem Alltag.

Wir können die Quellen unserer Genüsse bis zu einem gewissen Grad kontrollieren oder gar “besitzen”, den Genuss selbst aber nicht. Genuss ist ein Erleben, das sich unter gewissen Umständen und in einem bestimmten Maß, jedoch letztendlich von alleine, einstellt. Ein gutes Beispiel dafür ist das “Flow-Erleben”: das Zusammenwirken bestimmter, bekannter, auch ansteuerbarer Bedingungen kann, sogar mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit, zu diesem als beglückend erlebten Zustand völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit führen ‒ kann, muss aber nicht. 

Die Bedeutung des hedonistischen Glücks, aber auch seine Grenzen und Gefahren, wurde in der Geschichte der menschlichen Selbstreflexion schon früh erkannt. So würdigt z. B. Aristoteles den Wert und die Bedeutung des Hedonismus, lehnt das angenehme Leben als höchstes Ziel jedoch entschieden ab. Für ihn ist Glück die “Erfahrung eines erfüllten Lebens” und besteht darin, bestimmte Werte zu verwirklichen und ein gutes, im Sinne dieser Werte “tugendhaftes” Leben zu führen.

Glück ist damit für Aristoteles die natürliche Konsequenz eines “guten Lebens”, eines Lebens, das sowohl von der eigenen, entwickelten und reflektierten Persönlichkeit als auch von einem aktiv geführten, handlungs- und umsetzungsorientierten Leben geprägt ist. Er nennt es “Eudaimonia”: Glück als Ergebnis eines Lebens, in welchem sich ein Mensch mit Vernunft und Maß in Richtung eines “guten Lebens” ausrichtet und dieses auch tätig und verbindlich führt.

Eudaimonismus: Das Glück des guten, werteorientierten Lebens

Das eudaimonische (oder: eudämonische) Glück ‒ auch als “Werteglück” bezeichnet ‒ lässt sich mit dem Ausdruck “das gute Leben” umschreiben. Es bezieht sich vor allem auf die eigene Lebensführung und auf deren Bedeutung und Sinn. Das eudaimonische Glück ist verbunden mit dem Umsetzen persönlich wichtiger Werte, dem Streben nach bedeutsamen Zielen und wird als persönliche Erfüllung und Zufriedenheit erlebt. Es widerspricht dem hedonistischen Glück allerdings nicht und schließt dieses auch nicht aus, ist aber von vorneherein von ihm abgekoppelt. So kann das Erleben von eudaimonischem Glück sogar mit dem vorübergehenden Erleben unangenehmer, “unhedonistischer” Gefühle verbunden sein (z. B. wenn etwas geopfert oder auf etwas verzichtet wird zugunsten höher bewerteter Ziele).

Einen hohen Stellenwert haben in diesem Zusammenhang die persönlichen Ziele. Diese können sehr unterschiedlicher Natur sein und sind in der Abbildung unterteilt in:

  • Güter in Form materieller Ressourcen wie Besitz oder finanzieller Reichtum
  • Fähigkeiten: etwas können, was befriedigt oder glücklich macht. Auch: etwas lernen, sich entwickeln, Fähigkeiten entfalten
  • Werte: tun und umsetzen, was einem persönlich wert und wichtig ist. Auch: Ziele verfolgen, die bestimmte, übergeordnete Werte unterstützen (z. B. anfangen zu joggen für den Wert “Gesundheit”, Partner*in stärker entlasten für den Wert “glückliche Beziehung”, sich selbständig machen für den Wert “Freiheit”)

Untersuchungen der Sinnforscherin Tatjana Schnell haben gezeigt, dass unter den Zielen, die langfristig glücklich machen, die folgenden drei als die wichtigsten und erstrebenswertesten angesehen werden:

  • Kompetenzziele (die Entwicklung eigener Stärken oder das Erbringen persönlicher Leistungen)
  • Generative Ziele (der persönliche Beitrag zu einem größeren Ganzen, z. B. eine Familie gründen oder das Engagement für ein soziales/politisches Projekt)
  • Nähe und Bindung (nahe Beziehungen, das soziale Netz)

    So wichtig diese Ziele sind, so sind sie dennoch keine Garanten für das persönliche Glück. Ziele können z. B. auch überfordern oder als extrinsische, d. h. von außen übernommene, Ziele gegen eigene Grundbedürfnisse gerichtet sein (z. B. überhöhte Leistungsanforderungen). Oder sie können, sobald erreicht, überholt und sinnlos geworden sein. Und nicht zuletzt muss das eigentliche Ziel nicht einmal die Hauptsache sein. So steht ‒ nach dem Motto: „der Weg ist das Ziel“ ‒ z. B. beim Reisen in der Regel das Reisen selbst im Vordergrund und nicht das Ziel, irgendwann irgendwo anzukommen.

    Ziele sind daher keine direkten “Glücksbringer”, sondern tragen dazu bei, unser Bedürfnis nach einem guten, glücklichen Leben im Detail praktisch umzusetzen.

    Der Weg zum Glück: Lebenssinn und erfülltes Leben

    Zurück zur Abbildung: Alle Ziele im Dienste des eudaimonischen Glücks sind auf einzelne typische Größen des persönlichen Lebens bezogen: Im wesentlichen auf Güter, auf Fähigkeiten und und auf Werte. Nun gewinnt eine naheliegende Tatsache eine große und für das persönliche Lebensglück entscheidende Bedeutung, nämlich: dass

    • ausnahmslos alle Glückserfahrungen und Elemente des persönlichen Glücks,
    • dabei vor allem die Werte und Ziele als Leitplanken der eigenen Lebensführung,

    miteinander verknüpft sind, aufeinander aufbauen und aufeinander einwirken, d. h. zusammen ein System und ein Ganzes bilden. 

    Frage: “Führst du ein erfülltes, glückliches Leben?” 

    Du wirst nun vermutlich keine Excel-Tabelle anlegen und sämtliche glücksrelevanten Ereignisse deines Lebens erfassen und bilanzieren, um eine Antwort zu bekommen, oder? Es dürfte näher liegen, “nachzusinnen”, d.h. in dich hineinzuspüren. Um vom Organismus bzw. “aus dem Bauch” irgendwann ein Gefühl präsentiert zu bekommen ‒ ein Gefühl als Resultat eines unvorstellbar schnellen und umfassenden Abgleichs aller bisherigen glücksrelevanten Lebenserfahrungen. Ein Gefühl als eine summarische Bewertung, eine Art “Unter dem Strich”-Antwort. Dieses “Antwortgefühl” mag vage, unklar und schwer zu fassen sein: tatsächlich ist es eine sehr genaue Antwort, die uns unser Organismus gibt ‒ das Problem liegt bei uns bzw. bei unserer sehr begrenzten Fähigkeit, die eigenen (Körper-)Gefühle zu verstehen..

    Der Begriff “Organismus” steht hier für diese umfassende innere Instanz, welche ‒ im Unterschied zum bewussten und begrenzten “Ich” ‒ das vollständige körperlich-seelisch-geistige “Innenleben” einer Person als Ganzes organisiert und steuert. Damit steht “Organismus” auch stellvertretend für verwandte Begriffe, die für diese umfassende organismische Selbststeuerung verwendet werden, Begriffe wie: Selbst, Unbewusstes, Ganzheit, Seele, Geist etc. …

    Lebenssinn

    Was also tut der Organismus, um die Frage “Führst du ein erfülltes, glückliches Leben?” beantworten zu können? In einem ersten Schritt gleicht er sämtliche im Dienste des eudaimonischen Glücks gelebten Werte, verfolgten Ziele und im Gedächtnis gespeicherter Erfahrungen miteinander ab und verdichtet sie zu einem individuell spür- und in (Grenzen) verstehbaren umfassenden “Lebenssinn”: Was ist der Sinn meines Lebens insgesamt? In welches Sinnverständnis ist mein Leben eingebettet?

    Erfüllung

    In einem weiteren Schritt setzt der Organismus nun den “ermittelten” Lebenssinn in Beziehung zum tatsächlich gelebten Leben. Und erzeugt ein Gefühl der “Erfüllung”, welches diesem Verhältnis entspricht und den Grad der Umsetzung des gespürten Sinnes im gelebten Leben wiedergibt. 

    Das Gefühl der Erfüllung kann stark und stimmig sein, aber auch durchbrochen, konfliktreich, ambivalent (“ich wusste immer, was richtig gewesen wäre, habe es aber zu selten getan”). Oder ambivalent, aber dennoch stimmig: z. B. indem im Alter eine angeschlagene Gesundheit oder der Verlust des Lebenspartners vor dem Hintergrund eines „guten und glücklichen Lebens“ akzeptiert werden kann. Oder: indem dankbar angenommen wird, was an gutem und erfülltem Leben trotz solcher Einschränkungen und Verluste immer noch möglich ist bzw. einem auf die letzten Tage noch geschenkt wird.

    Lebenssinn und Lebensfreude

    Die Faktoren Sinn, Lebenssinn und Erfüllung sind so bedeutsam für das persönliche Glückserleben bzw. für die Frage “wie glücklich und erfüllt sehe/fühle ich mich in meinem Leben?”, dass wir den Begriff des “Lebenssinns” noch etwas genauer unter die Lupe nehmen wollen (siehe auch #9 Sich in größeren Zusammenhängen verstehen: Lebenssinn, Stimmigkeit und Werte).

    Wie erleben wir den “Sinn des Lebens”? Nach welchen Sinn-Kriterien bewerten wir das eigene Leben?

    Für die renommierte Sinnforscherin Tatjana Schnell beruht das Erleben von Lebenssinn und Sinnerfüllung auf einer (meist unbewussten) Bewertung des eigenen Lebens als kohärent, bedeutsam, orientiert und zugehörig.

    • Kohärenz ist der Ausdruck für Stimmigkeit, Schlüssigkeit und Passung in den verschiedenen Lebensbereichen. Sie beruht auf der Erfahrung, dass sich die einzelnen Bereiche, in denen man agiert, nicht widersprechen, sondern (idealerweise) ergänzen und aufeinander aufbauen.
    • Bedeutsamkeit steht für die wahrgenommene Wirksamkeit des eigenen Handelns. Wird dieses als unwirksam und erfolglos erfahren, führt dies zu Gefühlen eigener Irrelevanz, Bedeutungslosigkeit und damit: Sinnlosigkeit.
    • Orientierung bedeutet, sich und sein Leben an einem übergeordneten Werterahmen auszurichten, der auch in schwierigen Situationen stabil bleibt und trägt ‒ und die Basis bildet für weitreichende Entscheidungen sowie das Herausfinden und Verfolgen von Zielen, die mit diesem Wertesystem übereinstimmen.
    • Zugehörigkeit ist die Selbstwahrnehmung als Teil eines größeren Ganzen, z. B. Familie, Freunde, Kollegen, ähnlich denkende Menschen, Religion, Nation oder Menschheit im Allgemeinen. Diese Integration in einen größeren, übergeordneten Kontext ist mit Gefühlen der Verantwortung und des Gebrauchtwerdens verbunden und wirkt Isolation, Entfremdung und Sinnlosigkeit entgegen.

    In welchen Lebensbereichen wird Sinnerfüllung gesucht und erfahren?

    Der Frage “Wie werden Sinnhaftigkeit und Sinnerfüllung erlebt?” schließt sich fast von selbst die Frage an: “… und in welchen Lebensbereichen?” Hier unterscheidet Tatjana Schnell fünf Bereiche: 

    (1) Vertikale Selbsttranszendenz (Verantwortungsübernahme für etwas, dass nicht unmittelbar der eigenen Bedürfnisbefriedigung dient): z. B. religiöses Leben und Spiritualität

    (2) Horizontale Selbsttranszendenz: Engagement für irdische Belange jenseits des eigenen Interesses: Gemeinwohl, Naturverbundenheit, Selbsterkenntnis, Gesundheit, Generativität (Tun oder Erschaffen von Dingen mit bleibendem Wert)

    (3) Selbstverwirklichung: Selbstbestimmung und Selbstoptimierung (Individualismus, Herausforderung, Macht, Leistung, Freiheit, Wissen, Kreativität)

    (4) Ordnung: konservativ-bewahrende Wertorientierung und Pragmatismus (Tradition, Bodenständigkeit, Moral, Vernunft) 

    (5) Wir- und Wohlgefühl: Erhalt und Förderung des eigenen und gemeinschaftlichen Wohlbefindens (Gemeinschaft, Spaß, Liebe, Fürsorge, Harmonie)

    Existenzielle Indifferenz

    Im Rahmen ihrer empirischen Forschung fand Tatjana Schnell jedoch auch heraus, dass beispielsweise ein Drittel aller Deutschen (besonders häufig: Alleinstehende) ihr Leben als sinnlos erfahren, aber ‒ Achtung, jetzt kommt’s ‒ kein Problem damit haben. “Sinnleere” bedeutet also nicht automatisch “Sinnkrise”. 

    Menschen, die diese “existenzielle Indifferenz” aufweisen (so benennt Tatjana Schnell dieses Phänomen) zeigen in ihren Untersuchungen tendenziell wenig Leidenschaft und Engagement und sind besonders desinteressiert an Selbsterkenntnis, Spiritualität, Religiosität und Generativität (Schaffen von Dingen mit bleibendem Wert). Dies wirkt sich indirekt durchaus auf die seelische Gesundheit aus: So sind zwar Depressivität und Ängstlichkeit ähnlich ausgeprägt wie bei Menschen, die ihr Leben als sinnvoll erfahren. Allerdings ist das subjektive Wohlbefinden bzw. die Lebenszufriedenheit deutlich geringer ausgeprägt.

    Zusammenfassung

    Wie in der Abbildung oben dargestellt, hat das Phänomen “Glück” verschiedene Bedeutungen und Komponenten. Die beiden wichtigsten Ausrichtungen des persönlichen Glücksstrebens sind das genussbetonte “hedonistische Glück”, auch Wohlfühlglück genannt, und das vor allem sinnbezogene “eudaimonische Glück” bzw. “Werteglück”. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Voraussetzungen und Quellen dieser Glücksformen. Eine große Rolle spielt dabei die eigene Aktivität im Sinne des bekannten Sprichworts “Jeder ist seines Glückes Schmied”.

    Das eudaimonische (oder: eudämonische) Glück ‒ auch als “Werteglück” bezeichnet bezieht sich vor allem auf die eigene Lebensführung und auf deren Bedeutung und Sinn. Das eudaimonische Glück ist verbunden mit dem Umsetzen persönlich wichtiger Werte, dem Streben nach bedeutsamen Zielen und wird als persönliche Erfüllung und Zufriedenheit erlebt.

    Je mehr wir Glück im Sinne von “Lebensglück, Erfüllung, gutem Leben” verstehen, desto stärker kommt der Faktor “Sinn” ins Spiel. Zunächst in Gestalt einzelner Werte und Ziele, auch abhängig von den verschiedenen Lebensphasen, schließlich aber immer stärker als Frage des “Lebenssinns”. 

    Dieser umfasst in seiner lebensumspannenden Bedeutung (wie untersucht von Tatjana Schnell) die Komponenten

    • Kohärenz (Stimmigkeit der verschiedenen Lebensbereiche), 
    • Bedeutsamkeit (Selbstwirksamkeit), 
    • Orientierung (übergeordneter Werterahmen) und 
    • Zugehörigkeit (Selbsteinordnung als Teil eines größeren Ganzen).

    und wird vor allem in den folgenden Lebensbereichen gefunden und verwirklicht:

    • “Vertikale Selbsttranszendenz”: religiöses Leben und Spiritualität
    • “Horizontale Selbsttranszendenz”: Engagement für irdische Belange jenseits des eigenen Interesses
    • Selbstverwirklichung: Selbstbestimmung und Selbstoptimierung
    • Ordnung: konservativ-bewahrende Wertorientierung und Pragmatismus 
    • Wir- und Wohlgefühl: Erhalt und Förderung des eigenen und gemeinschaftlichen Wohlbefindens

    Dabei ist die Frage des Lebenssinns und der damit zusammenhängenden Themen (wie Selbsterkenntnis, Spiritualität, Religion, Generativität etc.) längst nicht für alle Menschen relevant. Viele erleben ihr Leben zwar als sinnlos, haben aber kein Problem damit (auch wenn ihre Lebenszufriedenheit erwiesenermaßen geringer ausgeprägt ist). Tatjana Schnell bezeichnet dieses Phänomen als “existenzielle Indifferenz”.

    Literaturempfehlungen

    Blickhan, D. (2015): Positive Psychologie – Ein Handbuch für die Praxis. Junfermann Verlag, Paderborn
    Harris, R. (2013): Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei. Wilhelm Goldmann Verlag, München
    Schmitz, B. et al., Hrsg. (2018): Psychologie der Lebenskunst. Springer Verlag GmbH Deutschland
    Schnell, T. (2016): Psychologie des Lebenssinns. Springer-Verlag Berlin Heidelberg

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