#5 Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Akzeptieren – 3 zusammenhängende Schlüssel zu einem guten und erfüllten Leben

Selbstorganisation des inneren Erlebens ‒ das Attraktormodell der Synergetik im Bereich der Psychologie

August 5, 2022

Der Begriff der „Achtsamkeit“ ist mittlerweile auch aus unserer westlichen Kultur kaum mehr wegzudenken. Einen klassischen, gut zugänglichen und in Tausenden von Jahren bewährten „Königsweg“ zur achtsamen Lebensführung bietet der Buddhismus. Zwar enthalten im Prinzip alle Weltreligionen und spirituellen Systeme vergleichbare Ansätze, jedoch kann der buddhistische unter den Stichworten „Meditation und Achtsamkeit“ als der entwickeltste und bedeutendste angesehen werden, zumal die buddhistische Methode nicht mit religiösem Glauben gekoppelt ist, sondern auf weltanschaulich voraussetzungsfreier, individueller Erfahrung und Praxis beruht.

Der Einzug der „Achtsamkeit“ in die westlichen Lebenskultur

Seit einigen Jahren/Jahrzehnten hält dieser, vor allem buddhistisch inspirierte, Ansatz unter dem Stichwort „Achtsamkeit“ einen höchst erfolgreichen Einzug in westliche Therapie-, Beratungs- und Coaching-Angebote: 

  • Als einer der ersten Anwendungspioniere entwickelte Jon Kabat-Zinn in den 80er Jahren die weltweit erfolgreiche Mindful-Based Stress Reduction (MBSR), ein Programm zur Stressbewältigung durch den gezielten Einsatz von Achtsamkeit. 
  • Dieses wurde im Rahmen der Behandlung von Depressionen zur Mindful-Based Cognitive Therapy (MBCT) weiter entwickelt. 
  • Es folgten die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) von Marsha Linnehan zur Behandlung von Borderline Störungen
  • und die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), welche Achtsamkeit und die Unterbrechung der Identifikation mit den eigenen Gedanken mit einer bewussten Werteorientierung und Handlungsverbindlichkeit kombiniert.

Dabei handelt es sich nur um einige der wichtigsten Ansätze. Insbesondere im Bereich der Verhaltenstherapie fand und findet eine starke generelle Öffnung in Richtung “Achtsamkeit” als einem bedeutenden therapeutischen Faktor statt (sogenannte „3. Welle der Verhaltenstherapie“).

Aufmerksamkeit ‒ der Rohstoff der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist eine Form der Bewusstseinssteuerung ‒ und wir können uns nur dessen bewusst sein, was sich im Feld unserer momentanen Aufmerksamkeit befindet. 

Die Aufmerksamkeit, gelenkt oder spontan, hoch konzentriert oder schläfrig, bildet aktuelle Wahrnehmungen im Bewusstsein ab und ist damit definitiv das Nadelöhr zum bewussten Erleben bzw. das Instrument der achtsamen Wahrnehmung. 

Wie funktioniert Aufmerksamkeit?

Das Bild des Lichtkegels

Die Aufmerksamkeit ist einer Taschenlampe vergleichbar, die sich in raschem Wechsel und in unterschiedlicher Intensität auf die einzelnen Objekte unserer Wahrnehmung richtet. Was immer von ihr angeleuchtet wird, steht in diesem Moment, „herausgezoomt“ aus der Fülle aller sonstigen Objekte, im Zentrum unserer Wahrnehmung. Dieser Lichtkegel bzw. der Fokus der Aufmerksamkeit kann dabei ganz unterschiedlich “eingestellt” sein: 

  • weiter, großräumiger, verschwommener oder enger, schärfer, fokussierter
  • unterschiedlich “hell”, da Aufmerksamkeit Energie kostet und wir uns in entsprechend unterschiedlichen wachen oder müden Zuständen befinden
  • Der Lichtkegel kann längere Zeit auf ein Objekt gerichtet sein (z. B. beim Lesen) oder nur flüchtig im Wahrnehmungsraum umherschweifen (z. B. etwas suchen oder sich in einer fremden Umgebung orientieren).

Beweglichkeit, Sprunghaftigkeit, Übergangscharakter

Die Aufmerksamkeit bewegt sich in einem Prozess stetigen Fließens bzw. abrupter Sprünge von Ausschnitt zu Ausschnitt innerhalb unseres gegenwärtigen Wahrnehmungsfeldes. Aus dem Ansturm äußerer und innerer Reize werden kontinuierlich einzelne Inhalte ausgewählt, als neu, interessant oder wichtig bewertet und dem Bewusstsein in symbolisierter Form (als Bild, Gedanke, Gefühl, Empfindung etc.) zur Verarbeitung verfügbar gemacht. Dieser Prozess ständig wechselnder Aufmerksamkeitszuweisung ist eigendynamisch und wird im Wesentlichen vom Organismus gesteuert. 

Dabei hat dieses unglaublich gewandte, schnelle, flexible Fließen und Springen der Aufmerksamkeit einen stark reagierenden Charakter. Aufmerksamkeit reagiert auf die kontinuierliche Flut der „Hinweisreize“, die sowohl per Sinneswahrnehmung aus der äußeren Umgebung oder aus dem inneren, psychischen Geschehen in Form kognitiver Reize, Gedanken, Gefühle etc. auf uns einstürmen. Diese Reize werden selektiv aufgenommen, nach ihrer Bedeutung bewertet und schließlich entweder wieder verworfen (das allermeiste), automatischen und unbewussten Routinen zugeführt oder ‒ durch weitere Verstärkung und Konzentration ‒ auf die “Bühne des Bewusstseins” gehoben.

Die Steuerung der Aufmerksamkeit

Die Eigendynamik und der Anteil des Willens

Von welchen Hinweisreizen auch immer ausgelöst: Die Aufmerksamkeit „verhält sich“ von vornherein autonom und eigendynamisch, d. h. sie wartet nicht unseren willentlichen Einsatz ab, sondern springt (gemäß einer inneren Hierarchie organismischer Bedürfnisse) automatisch auf dasjenige Detail innerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes, welches im Moment als das wichtigste, interessanteste oder drängendste bzw. bedrohlichste erscheint (Achtung, jetzt diesem Auto ausweichen!), um bereits im nächsten Augenblick, bei leicht veränderter Motivationslage, ein anderes, möglicherweise völlig konträres, Detail anzuspringen.

Dennoch kann der Prozess der Aufmerksamkeitszuteilung, sozusagen in zweiter Linie, auch willentlich beeinflusst und ein Stück weit gelenkt werden. Und diese absichtsvoll eingesetzte Lenkung der Aufmerksamkeit ist von entscheidender Bedeutung für alle Prozesse unserer Handlungs- und Lebenssteuerung. 

Der bewusste, willentliche Anteil an der Aufmerksamkeitslenkung ist von vornherein mühsamer und aufwendiger, weil er als „Schwimmen gegen den Strom“ regelmäßig mit dem Rhythmus der eigendynamischen Steuerung kollidiert (zum Beispiel die Anstrengung um Konzentration zur Bewältigung einer gesetzten Aufgabe, während sich ein anderer, deutlich lustloserer, innerer Teil dauernd von irgendetwas anderem ablenken lässt).

Konflikt und Kooperation 

Fast immer liegt im Zugriff auf die Ressource Aufmerksamkeit eine Mischung oder Verbindung beider, der eigendynamischen und der willentlichen, Steuerungsebenen vor: im o.g. Beispiel können Konzentration und Disziplin über die Lustlosigkeit dominieren (hoher Anteil der willentlichen Lenkung) oder die Ablenkbarkeit kann die Konzentration so weit untergraben, dass an ein Weiterarbeiten nicht mehr zu denken ist (hoher Anteil der autonomen Steuerung). Im Idealfall (Lust und hohe positive Motivation, Flow-Erleben) gibt es keinen Konflikt und die Aufmerksamkeit wird als ungeteilt, konzentriert und mühelos erlebt.

Dabei sind Konflikte zwischen diesen beiden Ebenen im Zugriff auf die Aufmerksamkeit eher die Ausnahme ‒ und die häufigere, funktional sinnvollere Verbindung dagegen die Arbeitsteilung, und das aus guten Gründen:

Unser Organismus befindet sich in einem Zustand ständiger Auseinandersetzung sowohl mit der Umwelt als auch mit dem inneren Erleben. Wollte der Organismus all diese fortwährenden Ausgleichsprozesse bewusst und willentlich durchführen, wäre er hoffnungslos überfordert, was vor allem an der sogenannten „Kanalenge“ des Bewusstseins liegt: Das Bewusstsein arbeitet langsam, sequentiell (eins nach dem anderen, immer nur ein Thema auf einmal) und aufwendig (das Gehirn verbraucht beim bewussten Denken verhältnismäßig viel Energie). Mit anderen Worten: bewusste Aufmerksamkeit ist kostbar, (energetisch) teuer und begrenzt – jedoch: enorm wichtig, da der menschliche Lebensprozess im Sinne der Selbststeuerung ohne bewusste Aufmerksamkeit nicht funktionieren würde.

Die arbeitsteilige Steuerung der Aufmerksamkeit

Der Organismus löst dieses Dilemma in Form einer ausgeklügelten und flexiblen Arbeitsteilung: Was ohne bewusste Steuerung erledigt werden kann, steht als automatisierte Routine in einer Art “inneren Bibliothek” im Gedächtnis zur Verfügung und wird vom Organismus weitgehend unbewusst, automatisch und blitzschnell aufgerufen und ausgeführt (implizite Steuerung). 

Automatische Routinen. Im wesentlichen sind das

  • vegetative und körperliche Prozesse wie Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Gehen, sich im Raum orientieren etc. 
  • angeborene psychische Mechanismen wie z. B. das Verhalten in Lebensgefahr, emotionale Reaktionen auf Ereignisse etc. 
  • gelernte Abläufe, Routinen und Prozeduren wie Schnürsenkel binden, Auto fahren, sprechen etc.

Kabat-Zinn nennt diesen Modus der automatischen Selbststeuerung, dem wir uns immer dann ‒ automatisch ‒ überlassen, wenn wir keine bewusste willentliche Absicht ausführen, den „Autopiloten“.

Einsatz des Bewusstseins. Was dagegen mit den automatisch verfügbaren Mitteln alleine nicht zu bewältigen ist, wird per Aufmerksamkeitszuwendung in das Bewusstsein geholt und dort bearbeitet (explizite Steuerung): 

  • neu zu erlernende Dinge
  • Verhalten in Situationen, für die es keine passenden oder ausreichenden Standards in der Gedächtnisbibliothek gibt
  • Situationen, die einer situativ einmaligen Bewältigung und Probleme, die einer erstmaligen kreativen Lösung bedürfen

Die typische arbeitsteilige Verbindung von impliziter und expliziter Handlungssteuung ist in Alltagshandlungen gut zu erkennen:

  • Ich gehe über die Straße (wohin ich will, muss ich bewusst entscheiden; körperlich gehen und aufpassen, d. h. mich verhaltensmäßig in den Verkehrsfluss einfügen, geschieht weitgehend automatisch), da kommt ein Auto ums Eck geschossen, ich zucke zurück und bringe mich mit einem Sprung in Sicherheit (instinktive Reaktion), merke mir jedoch eben noch das KfZ-Kennzeichen (Willenshandlung) …
  • Beziehungssituation: Vorfreude, gespannte Erwartung, was passieren würde, zufällige Begegnung, stürmische Umarmung, kuscheln, erzählen, lachen etc.: all das kann sich „aus dem Bauch heraus“, ohne einen Funken Planung ereignen, nicht jedoch die Lösung der Frage: wollen wir heute Abend zusammen essen gehen?

In der hierarchischen Kombination dieser beiden Systeme wird praktisch immer ein verhältnismäßig kleiner Anteil bewusster Steuerung von einer riesigen Menge impliziter, meist unbewusster „Zuarbeiten“ gestützt und getragen.

Prioritäten und Rangfolgen

Da die „Spezialressource“ Bewusstsein und auch die „Zugangsressource“ Aufmerksamkeit generell knapp und kostbar ist, besteht eine Konkurrenzsituation bzw. eine Rangfolge unter verschiedenen bedürfnisrelevanten Situationen: beispielsweise haben Bedrohungssituationen immer Vorrang (das Sicherheitsbedürfnis rangiert in der Bedürfnishierarchie sehr weit oben), während andere Bedürfnisse (z. B. das Bedürfnis nach Erholung, dessen Befriedigung eher aufzuschieben ist) eher in einer „Warteschlange“ untergebracht werden: erst wenn der Job erledigt ist, die Kinder im Bett sind und das restliche Tagesprogramm getan ist, darf sich das Ruhebedürfnis im Bewusstsein anmelden.

Die Prioritäten und Rangfolgen im Zugriff auf Bewusstsein und Aufmerksamkeit regelt der Organismus weitgehend autonom. So hat das bewusste Ich beispielsweise wenig Chancen, dem Entspannungsbedürfnis nachzugehen, wenn das Sicherheitsbedürfnis – z. B. eine Gefahrensituation im Straßenverkehr – bedroht ist. Erst bei genügend freien Kapazitäten (heute liegt nichts Besonderes an – auf was hätte ich denn Lust? …) oder wenn die Spezialkompetenz des Bewusstseins ausdrücklich gebraucht wird (diese Entscheidung erfordert ein gründliches Überdenken …), erhält das Ich eine begrenzte Eigenständigkeit im Gebrauch dieses kostbaren Instruments bewusster Reflexion.

Achtsamkeit ‒ die Steuerung der Aufmerksamkeit

Was ist Achtsamkeit? 

Achtsamkeit ist zunächst die willentlich gelenkte, auf die eigenen Wahrnehmungen gerichtete Aufmerksamkeit. Die Beobachtung des eigenen Erlebens, der körperlichen, seelischen und geistigen Vorgänge in ihrer Wechselwirkung mit inneren und äußeren Reizen, soweit sie in den Bereich der bewussten Wahrnehmung fallen. Eine zugewandte Art und Weise, mit dem eigenen Gegenwartserleben, dem Körper und Geist, im lebendigen Kontakt zu sein und diesen Kontakt bewusst zu erleben, während er geschieht. Die Aufmerksamkeit ist dabei grundsätzlich auf die Gegenwart, das jeweilige „Hier und Jetzt“ im Erlebensprozess gerichtet. 

Wertungsfreie Wahrnehmung

Wesentlich für die methodisch und systematisch prakizierte Achtsamkeit ist 

  • der Charakter der passiven, wertungsfreien Aufnahmebereitschaft gegenüber den Objekten der Wahrnehmung, 
  • die uneingeschränkte Bereitschaft zum Akzeptieren der Wahrnehmung als solcher,
  • der grundsätzliche Verzicht auf Akte des Bewertens, Stellungnehmens, Beurteilens der Wahrnehmung, 
  • aber auch: des Vermeidens, Filterns und Sortierens, also des Manipulierens schlechthin. 

Die achtsame Wahrnehmung registriert die inneren und äußeren Reize (Sinneswahrnehmungen, Körpererleben, Gefühle, Gedanken etc.) von Moment zu Moment in der Reihenfolge, wie sie auftauchen: wach, konzentriert, aufnahmebereit und ohne zu werten, d. h. ohne irgendeine Erfahrung abzulehnen, aber auch, ohne sich an ein Erleben zu klammern. 

Natürlich „passiert“ dies reflexhaft trotzdem, und zwar am laufenden Band ‒ dann geht es genau darum, eben diese wertenden Reaktionen gelassen und nicht-wertend wahrzunehmen, sie als ein „das geschieht gerade“ zu registrieren, ohne dies erneut zu bewerten. 

Die methodische Achtsamkeit richtet sich also nicht darauf, den geistigen Reflex des „Einhakens, Beurteilens, Klammerns oder Ablehnens“ (also all das, was der Achtsamkeit eigentlich entgegensteht) zu verhindern, sondern: diesen Reflex einfach nur zu bemerken, um dann sofort wieder in die Haltung der achtsamen Wahrnehmung bzw. die Rolle des inneren Beobachters zu schlüpfen, um erneut, wenigstens einige Momente lang, aus dem Kreislauf dieser ablenkenden Identifikationen auszusteigen. 

Achtsamkeit/Präsenz und Autopilot als Gegenspieler

Achtsamkeit wird willentlich eingesetzt, geschieht also nicht automatisch und „von alleine“ ‒ anders als die Aufmerksamkeit, die grundsätzlich eigendynamisch und von alleine funktioniert, die sich schnell ablenken lässt und jeden neu auftauchenden Wahrnehmungsreiz „ungefragt“ anspringt. Die achtsame Wahrnehmung muss im Prinzip immer wieder neu „eingeführt“ und dann bewusst aufrechterhalten werden. Das erfordert Konzentration und das Einüben einer gewissen Kontrolle der Aufmerksamkeit, um eine ‒ auch dann immer noch anfällige ‒ gewisse innere Stabilität herzustellen. 

Die Konzentrationsfähigkeit ist also eine wichtige Komponente und Voraussetzung der Achtsamkeit. Hinzukommen muss jedoch noch eine weitere Fähigkeit, nämlich: genau in dem Moment, auf den es ankommt (in welchem z. B. „von alleine“ eine ungewollte Automatikreaktion durchbrechen würde) präsent zu sein, DA zu sein, zu bemerken, was passiert. Und das schnell und geistesgegenwärtig genug, um der Automatikreaktion noch zuvorzukommen.

Der Moment des „Auskuppelns“

Das bedeutet, zwischen Reiz und Reaktion, zwischen dem Erlebensansturm der gegenwärtigen Wahrnehmungen, Bewertungen, Affekte einerseits und einer bewussten willentlichen Verhaltensantwort andererseits einen Moment des Innehaltens, der Vergegenwärtigung und Einsicht, des „aktiven Nichttuns“ zu schieben, um zunächst aus dem „Autopiloten-Modus“, der inneren Automatik verselbständigter Erlebens- und Verhaltensschemata, auszusteigen. Das muss schnell und genau zum richtigen Zeitpunkt passieren – bevor der Autopilot wieder die Kontrolle übernommen hat. Auf diese kleine und schnell zu verpassende Lücke, auf diese Chance des „Auskuppelns“, des Ausstiegs und der Neuorientierung hin ist die achtsame Selbstwahrnehmung bzw. Präsenz (im Gegensatz zur ungelenkten, hierhin und dorthin flatternden, zufälligen Aufmerksamkeit) ausgerichtet.

Dies hat tendenziell etwas von dem bekannten „Spiel mit dem Hasen und dem Igel“: wenn der Hase (der bewusste Wille) angehechelt kommt, war der Igel (der unbewusste Automatismus) schon da und hat die Ressource „Aufmerksamkeit“ bereits kassiert. Die vom „Autopiloten“ gesteuerten Erlebensprozesse laufen schematisch, automatisiert, überwiegend unbewusst und blitzschnell ab − unter Umgehung des ansonsten möglicherweise eingreifenden Bewusstseins. Das willentliche, korrigierende Eingreifen (Achtsamkeit als bewusster, klarer, entschlossener Griff des bewussten Willens nach dem „Gold“ der Aufmerksamkeit) ist von vornherein mühsam, weil es gegen die „Flussrichtung“ des (automatischen) Geschehens gerichtet ist. Es setzt eine Entscheidung voraus, nämlich die nötige Konzentrationsleistung für eine bewusste Einsichtnahme in das aktuelle Geschehen aufzubringen und zu investieren. Es ist grundsätzlich einfacher, sich dem Strom seiner Gedanken zu überlassen und mühsamer, sich willentlich zu konzentrieren.

Das Training der achtsamen Wahrnehmung/Präsenz

Aufmerksamkeit ist ein Geschehen, Achtsamkeit bzw. Präsenz dagegen eine Kompetenz – eine Fähigkeit, die entwickelt und trainiert werden muss und erst mit wachsender Beherrschung eine gewisse, begrenzte Automatisierung ermöglicht. Ähnlich wie das gezielte Muskeltraining im Sport kann auch die Fähigkeit zur achtsamen Wahrnehmung/Präsenz einerseits systematisch aufgebaut und trainiert werden ‒ andererseits jedoch auch verkümmern und unterentwickelt bleiben, wenn nichts für ihre Entwicklung getan wird.

Der kleine Moment des „Auskuppelns und Innehaltens“ stellt die Keimzelle, die kleinste Einheit, den einzelnen „Mikroschritt“ zur Entwicklung der eigenen Achtsamkeit dar. Zunächst bedeutet er nur einen einzelnen kleinen Schritt der Rückkehr zur Bewusstheit der eigenen Situation. Immer wieder neu praktiziert jedoch führt er ‒ im Sinne eines normalen Trainingseffekts ‒ dazu, einen kontinuierlichen, zwar immer wieder unterbrochenen, aber auch immer dichter und beständiger werdenden Grundzustand des Selbstgewahrseins aufzubauen. 

Geduld, Neugier und Humor

Sehr hilfreich für die Entwicklung der Achtsamkeit ist es, den unvermeidlichen Kreislauf dieses „immer wieder Unterbrochenwerdens und immer wieder neu zur Achtsamkeit Zurückkehrens“ als etwas Normales zu akzeptieren und geduldig damit umzugehen. Das gibt diesem „immer wieder Zurückkehren“ etwas Leichtes und Fließendes. Achtsamkeitsentwicklung ist im oben erläuterten Sinne zwar prinzipiell ein „Kraftakt des Willens“ und damit auch mühsam und herausfordernd. Darüber hinaus jedoch hat die wachsende Fähigkeit zur achtsamen Selbstbegleitung auch ein enormes Potenzial, über die Attraktivität ihrer Vorzüge zu wirken, positiv zu locken und Lust auf mehr zu machen. 

Achtsamkeit bedeutet keineswegs, sich in Form selbstüberfordernder Ansprüche unter Stress setzen zu müssen! Eine Haltung offener, neugieriger Selbstbegleitung, des interessierten Verweilens mit sich und den eigenen Erlebensprozessen ist schon mehr als genug und die fortschreitende Faszination an der Entdeckung der „inneren Bühne“ des eigenen Bewusstseins ein kraftvoller Entwicklungsmotor.

Die achtsame Orientierung am gegenwärtigen Erleben lebt nicht von einem verspannten Sich-dazu-zwingen, um möglichst wenige Momente der Gegenwärtigkeit zu verpassen, sondern (neben der unumgänglichen Selbstdisziplin) auch von Neugier und Entdeckungslust, einem selbst- und situationszugewandten, positiv motivierten Schwingen mit der gegenwärtigen Situation und ihrem aktuellen Erlebensfokus. 

Achtsamkeit muss nicht todernst daherkommen und halb erleuchtet aussehen, sie darf gerne auch prickeln, Spaß machen und sich in einem fröhlichen Trällern unter der Dusche ausdrücken.

Die Haltung der Achtsamkeit

Akzeptieren

Eine zentrale Qualität achtsamer Wahrnehmung ist die Bereitschaft zum bedingungslosen Akzeptieren der eigenen Wahrnehmungen. Jede Wahrnehmung wird zunächst so akzeptiert, wie sie ist, d. h. so wie sie unmittelbar wahrgenommen wurde. Damit verbunden ist ein bewusster Verzicht darauf, sie (zunächst, als unmittelbare Wahrnehmung) als gut oder schlecht zu bewerten, sie vorschnell und automatisch in bestehende Konzepte einzuordnen, sie zu vermeiden und zu verändern, d. h. sie anders haben zu wollen als sie ist.

Was das „Akzeptieren“ nicht bedeutet

Dies bedeutet keineswegs ein unkritisches Gutheißen und Hinnehmen all dessen, was wahrgenommen wird! Akzeptanz bedeutet weder, destruktiven Gewohnheiten freien Lauf zu lassen, noch, in einen passiven Fatalismus zu verfallen oder gar, auf sinnvolle Veränderungen zu verzichten. Bewertung und Reaktion stehen einfach nur auf einem anderen Blatt. Eine bewusste, angemessene Reaktion (Bewertung und ggf. Ablehnung) hat natürlich ihre Berechtigung und Wichtigkeit, erfolgt aber erst später und idealerweise auf der Basis einer möglichst vollständig zugelassenen und verstandenen Wahrnehmung. 

Gerade die Bereitschaft, wirklich hinzuschauen und anzuerkennen, dass die Dinge im Moment so sind wie sie sind, kann zur besten Grundlage von Stellungnahme und Veränderung werden. Beispiele: 

  • Erst das Eingeständnis einer Sucht und die Bereitschaft, ihr Funktionieren im persönlichen Leben genau anzuschauen, schafft die Basis für eine Therapie. 
  • Oder: indem ich das Vorhandensein meiner Wut anerkenne und mich mit ihr in meinem Inneren auseinandersetze, beuge ich einer destruktiven Entladung nach außen vor.

Die Wirklichkeit akzeptieren, wie sie ist ‒ auch wenn es schwerfällt

Die Realität ist nicht auf unser Bild von ihr und unsere Wünsche an sie zu reduzieren. Achtsamkeit setzt die Anerkennung dieser Tatsache voraus. Die Strategie, all die unangenehmen (Selbst)Erfahrungen und Einsichten, die von unserem Bild der Realität abweichen, zu ignorieren und zu verdrängen, erweist sich oft genug als Milchmädchenrechnung. Achtsamkeit führt den Blick notwendigerweise über die Mechanismen einer selektiven und gewohnheitsgesteuerten Wahrnehmung hinaus. Grenzen bisheriger Einsichten werden überschritten und andere, größere Zusammenhänge, einschließlich neuer Handlungsmöglichkeiten, sichtbar. 

Damit ist Achtsamkeit zunächst eine Investition, weil ein gewisser Aufwand an Konzentration und Geduld aufgebracht werden muss. Außerdem kann die Bereitschaft zur Akzeptanz auf harte Proben gestellt werden, wenn z. B. problematische Gefühlslagen und Selbstwahrnehmungen auftauchen, die zunächst „einfach“ ausgehalten werden müssen. Längerfristig jedoch befreit die „Investition der Achtsamkeit“ die Energie, die in der (oftmals angespannten) Beschränkung auf alte Grenzen gebunden war. Diese steht nun wieder zur Verfügung, zusätzliche neue Energie kommt mit dem Blick über den Tellerrand des Bekannten und im Wahrnehmen neuer Möglichkeiten hinzu. Dies führt zu einem Zuwachs an Kraft und Resilienz, der jetzt u. a. für das Aushalten und die Bewältigung schwieriger Gefühlslagen und innerer Verfassungen zur Verfügung steht. Die wachsende Fähigkeit, uns beim Wahrnehmen bzw. Schaffen unserer Wirklichkeit achtsamer zuschauen zu können, bahnt im gleichen Maße die Freiheit, uns unseren inneren Einschränkungen zu entwinden.

Gerade die Bereitschaft zur Akzeptanz, die sanfte, aber beharrliche und „unbestechliche“ Bereitschaft zur Wahrnehmung dessen, was ist und nicht dessen, was sein soll, diese trainierbare Fähigkeit zur respektvollen Anerkennung all dessen, was sich (eben auch an unangenehmen, schmerzhaften und abgewehrten Dingen) im Moment dem Bewusstsein zeigt, ist unverzichtbar, um den Fuß in die Tür des „mechanischen Erlebens“ zu bekommen.

Die grundsätzliche Bereitschaft, anzudocken an „dem, was ist und nicht an dem, was sein soll“, hat auch mit Geduld zu tun. Dass die Dinge ihre Zeit brauchen, um sich und ihre Wirkung zu entfalten, gehört zu dem, „was ist“ und was (wohl oder übel) zu akzeptieren ist, da es vollkommen sinnlos ist, angespannt, nervös und ungeduldig dagegen anzurennen.

Die Dinge an sich heran lassen

Akzeptanz bedeutet, die Dinge an sich heranzulassen, sie direkter und klarer zu erkennen und zu spüren. Dies mag im Einzelfall schmerzhafter, unangenehmer, schwieriger und mühsamer sein als das Verharren in der vertrauten Abwehr und erfordert beträchtlichen Mut und Bereitschaft, kurzfristig ein erhöhtes Maß an Unsicherheit, Schmerz und Frustration auszuhalten. Trotzdem lohnt sich die Strategie „verdrängen statt akzeptieren“ langfristig nicht: im Widerstand gegen die Dinge, die nun mal anders sind, als wir sie gerne hätten, verschwenden wir eine immense Energie, weil diese Kämpfe prinzipiell nicht zu gewinnen sind. Die Realität ist, wie sie ist. Stattdessen erzeugen wir eine (sture) Spannung und (bockigen) Druck, der unsere Kraft bindet und eine Wendung zum Positiven verhindert.

Dagegen ist die Erfahrung des grundsätzlich offenen, freundlichen und akzeptierenden Charakters der achtsamen Selbstzuwendung emotional aufbauend, wohltuend und hilfreich, gerade dann, wenn die Inhalte problematisch und schwierig sind. Das ruhige und akzeptierende Einbeziehen abgelehnter und gefürchteter Anteile eigenen Erlebens trägt dazu bei, diesen ihren Schrecken zu nehmen, sie in ihrer Bedrohlichkeit zu entmachten, zu enttabuisieren und damit wieder einer wohlwollenden Beobachtung und behutsamen Integration zuzuführen.

Auf einen Schmerz, den wir als im Moment vorhanden akzeptieren, können wir sinnvoll reagieren (trösten, beruhigen, behandeln) und er kann abfliessen, sich lösen, heilen. Ein nicht akzeptierter Schmerz steckt fest, bleibt unbehandelt, bindet Energie und muss, in der Regel ohne Lösungsperspektive, auf Dauer ausgehalten werden. 

Die Grundhaltung der Freundlichkeit

Die Bereitschaft zur bedingungslosen Akzeptanz ist grundlegend mit einer Haltung verknüpft, die in ihrer geradezu magischen Wirkung schon als Therapie an sich gelten kann: die bedingungslos freundliche und mitfühlende Haltung sich selbst gegenüber. Achtsamkeit ist nicht nur Methode und Technik (und schon gar keine reduziert nüchterne, analytische Selbstbeobachtung), sondern 

  • eine offene, freundliche, sich selbst respektvoll und liebevoll zugewandte Haltung 
  • eine Einstellung des bedingungsfreien Akzeptierens und Annehmens seiner selbst und seines Erlebens im einzelnen 
  • ein grundsätzlich wohlwollendes, fürsorgliches, empathisches Beziehungsinteresse sich selbst gegenüber 
  • eine Bereitschaft, sich in Schutz zu nehmen gegen alle Tendenzen, sich innerlich abzuwerten und „herunterzuputzen“. 

Erst diese radikale Position des Freundlich-zu-sich-selbst-seins, erst dieses innere Klima lässt die Seele auf das Angebot des „Akzeptierens“ reagieren – unter Umständen erst vorsichtig und zögerlich, langfristig jedoch unaufhaltsam und wirkungsvoll.

Dann darf sich ‒ sozusagen im Schutz eines verlässlichen freundlichen Zu-sich-Stehens ‒ auch bislang Abgewehrtes, Unangenehmes, Ungeliebtes, Problematisches, Peinliches zeigen, oder auch Subtiles, noch nicht Zugängliches, schwer zu Fassendes. Schmerzhafte Erfahrungen und Emotionen, abgelehnte und gefürchtete Bilder, Gefühle, Fantasien, und Gedanken können nun das Licht der Oberfläche riskieren und in das Gesamterleben mit einbezogen werden ‒ wodurch all dieses gewagte, neu und zögernd zugelassene Erleben durch seine gelassene Besichtigung und seine freundliche Begrüßung seinen Schrecken verlieren und verstanden, enttabuisiert, seinen Platz finden und gelöst werden kann.

Auch hier gilt: Die freundliche Grundhaltung bedeutet keineswegs, sich alles, z. B. seine eigenen destruktiven Tendenzen, kritiklos durchgehen zu lassen. Die bedingungslose Freundlichkeit bzw. Selbstliebe ist nicht auf „alles, was ich will und tue“ bezogen, sondern auf mich als den ganzen, erlebenden, dahinterstehenden Menschen.

Wirkung und Veränderungen

Die Praxis der Achtsamkeit und die Entwicklung der eigenen persönlichen Präsenz bilden ein gezieltes Training, um die Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit, die Kontrolle über dieses zentrale und wichtigste Instrument unserer Selbstführung zu verbessern,

  • um den Raum der Möglichkeiten, die der aktuelle Moment bereithält, zu öffnen und verfügbar zu machen. Ist der Betrieb des Autopiloten mit seinen inneren Bewertungen und automatischen Reaktionen momentweise unterbrochen, öffnet sich ein Blick auf die verfügbaren Möglichkeiten und Verhaltensalternativen. Die bewusste Wahrnehmung der Umweltreize wie auch der eigenen Gefühle und Gedanken weitet die Aufmerksamkeit, vergleichbar einer Kamera mit Weitwinkelobjektiv, und erfasst auch den gesamten Raum des „darüber hinaus“. Da nun die eigenen Wahlmöglichkeiten, die Optionen, Alternativen und Freiräume mit in die bewusste Wahrnehmung einbezogen sind, ermöglicht dies eine verbesserte Selbstregulation und Selbstführung.
  • um die Identifikation mit erstarrten und überholten Denkmustern, Gewohnheiten und Selbstbildern zu lösen. Achtsamkeit bzw. Präsenz ist DAS Gegengift zur automatischen Identifikation mit diesem Netzwerk an „blinden Flecken“ und Voreingenommenheiten, welches unsere Sichtweise prägt und durch welches wir wie durch eine trübe Brille auf die Welt sehen. Und von dieser trüben Brille (die wir natürlich brauchen, solange wir nichts Besseres zur Verfügung haben) macht uns das Kultivieren und Trainieren unserer Achtsamkeit zunehmend unabhängiger. 

Die achtsame und unvoreingenommene Haltung des „Inneren Beobachters“ lässt sich mit einem hochsensiblen Mikroskop vergleichen, welches die eigenen Lebensmuster und die verschiedenen Schichten der eigenen Persönlichkeit (mit zunehmender Entwicklung) immer klarer, deutlicher und hochaufgelöster zu „spiegeln“ bzw. zu erfassen vermag. Der Zusammenhang und das Zusammenspiel der vielen ausschnitthaften Fragmente unseres Selbsterlebens werden transparenter, sichtbarer und verstehbarer, weil der radikale Verzicht des inneren Beobachters auf reflexhaftes Bewerten, Manipulieren und „Zurechtrücken“ es der Seele momenthaft erlaubt, in ihrer ursprünglichen Ganzheit da zu sein und sich zu zeigen.

Wachsende Horizonterweiterung

Indem die achtsame Wahrnehmung zunehmend im Hier und Jetzt der gegenwärtigen Erfahrung zentriert wird, wird diese offener und die Erfahrung gewinnt an Fülle. Der Erlebensschwerpunkt verschiebt sich von der Eindimensionalität des zielorientierten Vorgehens zur Mehrdimensionalität des gegenwärtigen Seins. 

Das Geschirr muss nach wie vor gespült werden, aber der Augenblick muss der Funktionalität dieses Akts nicht gänzlich geopfert werden, da er genügend Raum zum Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Lachen und Lieder trällern lässt. Der unmittelbare Augenblick bietet eine Fülle von Möglichkeiten, im Netzwerk der eigenen Erlebensräume anzudocken ‒ und im achtsamen Selbstzugang springt die Aufmerksamkeit schon von ganz alleine auf die Option, die auf dem Stapel aktueller Themen und Anliegen obenauf liegt.

Als nicht-wertende (genauer: über die eigenen Wertungsprozesse hinausgehende) Wahrnehmung führt sie automatisch zu einer wachsenden Horizonterweiterung und einem zunehmenden Verständnis der einzelnen inneren Anteile und deren Sinn im Wahrnehmungsganzen. Ein erweiterter Überblick, eine entspanntere, weil akzeptierende Sichtweise und ein gewachsenes Verständnis löst festgefahrene Spannungen und harmonisiert das Gesamtsystem schon dadurch, dass sich die Dinge „von alleine“ entwickeln können (ohne festgehalten und abgewehrt zu werden). Das Heraustreten aus dem Spannungsfeld des Parteiergreifens und Bewertens schafft Raum für Entwicklung, Wachstum, Fluss, Veränderung ‒ eine Dynamik, die dem Lebendigen selbst eigen ist und nicht vom Ich mit seiner eher begrenzten Problemlösekompetenz geleistet werden muss. 

Der Alltag in seiner momentanen Fülle

So ist die Kultur der Achtsamkeit ihrer Natur gemäß gewaltfrei und auf Vertrauen gegründet ‒ auf Vertrauen in die Fähigkeit aller lebenden biologischen Systeme, sich selbst zu entwickeln, optimal zu organisieren und zu wachsen, auf Vertrauen in die Kooperation mit dem Unbewussten, Vertrauen auf den Überblick, die Weisheit und die Ressourcen des Selbst.

Achtsamkeit und Präsenz setzen an einem Vertrauen an, welches uns zutiefst „vertraut“ ist: das Vertrauen, morgen wieder aus dem Schlaf zu erwachen, das Vertrauen, dass sich der Körper selbst reguliert und intakt bleibt, das Vertrauen, dass die Wirklichkeit morgen zumindest ungefähr so aussieht wie heute etc. In ihrem grundlegenden Vertrauen in die „Eigenentfaltung der Wirklichkeit“ sind Achtsamkeit und Präsenz auch ein „Loslassen“, wunderbar beschrieben von A. Poraj*:

„ … Es ist der Eintritt in die umfassender werdende Wahrnehmung dessen, was ist und so wie es ist. Weil aber die Persönlichkeit per definitionem nicht in der Lage ist, ohne Selbstbilder zu existieren, weil sie schlichtweg diese bildet, kann das offene Schauen über die Grenzen hinaus nicht mehr ihre eigene Tätigkeit sein, vielmehr ist es die eines größeren Ganzen, das ich Seele nenne. Es scheint die Seele zu sein, die an ihren äußeren Rändern zu dem erstarrt, was wir im Alltag „Persönlichkeit“ nennen. 

Loslassen ist ein sanfter und zugleich kraftvoller Akt der Subjektverlagerung, jedoch nicht als Akt und Anstrengung der Persönlichkeit, sondern als ein sich Entspannen der Persönlichkeit aus der Wahrnehmung der Seele heraus und in diese hinein, und das immer mehr und in einem immer größeren Ausmaß, bis dass die Persönlichkeit im Dienste der Seele und nicht die Seele im Dienste der Persönlichkeit steht.

Loslassen ist die Weite, die wir nicht mehr wahrnehmen, weil sie so voll gehängt ist mit Selbstportraits. Es sind die Stimmen, die erklingen, wenn der innere Monolog des Galeristen** zum Stillstand kommt. Es sind die Schmerzen, die auftauchen, weil sie endlich mal gelebt und beweint werden können und deswegen aus dem Exil der Unerwünschtheit zurückkommen.

Es ist der Alltag in seiner momentanen Fülle. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.”

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* Poraj, A. (2007), Craving und Clinging als Merkmale der conditio humana. In: Anderssen-Reuster (Hrsg.): Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik, Schattauer Verlag Stuttgart, 84ff

** „Galerist“: von Poraj verwendete Metapher für den inneren Verwalter der Selbstbilder

Literatur

Anderssen-Reuster, U. (2007): Achtsamkeit in Psychotherapie und Psychosomatik. Schattauer Verlag, Stuttgart

Kabat-Zinn, J. (2003): Gesund durch Meditation. 10. Auflage, Scherz Verlag, Bern

Weiss H., Harrer M., Dietz, T. (2010): Das Achtsamkeitsbuch. Klett Cotta, Stuttgart

Wetzel, S. (2014): Achtsamkeit und Mitgefühl. J. G. Cotta‘sche Buchhandlung, Stuttgart 

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