#9 Sich in größeren Zusammenhängen begreifen: Lebenssinn, Stimmigkeit und Werte

Selbstorganisation des inneren Erlebens ‒ das Attraktormodell der Synergetik im Bereich der Psychologie

August 9, 2022

Nachdem wir 

kennengelernt haben, werfen wir nun einen Blick auf bedeutsame “größere Zusammenhänge”, in welche die seelische Gesundheit eingebettet ist, wie den Sinn/Lebenssinn, einige Aspekte innerer Stimmigkeit sowie die persönlichen Werte. 

Sinn/Lebenssinn

Ein solcher bedeutsamer Kontext ist vor allem der Sinn, den wir den Dingen, und letztendlich der Sinn, den wir unserem Leben grundsätzlich und insgesamt geben: siehe #1 Wohlbefinden, Hedonismus, Lebenssinn, oder …? Was brauchen wir wirklich für ein glückliches, sinnvolles und erfülltes Leben?” Was ich dort zum Verhältnis von Sinn/Lebenssinn und Glück erläutert habe, beschreibt ohne Einschränkung auch auf das Verhältnis von Sinn/Lebenssinn und seelischer Gesundheit.

Stimmigkeit

Hinter diesem unscheinbaren, auch etwas wolkigen Begriff “Stimmigkeit” steckt ein Zusammenhang, ohne welchen die seelische bzw. geistige Gesundheit gar nicht denkbar wäre ‒ ja, nicht einmal das Ich-Bewusstsein, wie es sich in unserer Identität, in unserem individuell geschlossenen und zusammenhängenden System “Das bin ich” ausdrückt. 

Wir sind zwar in der Lage, ein hohes Maß an Widersprüchen, Konflikten, unaufgelösten Spannungen und Chaos auszuhalten, aber erstens (wie das Wort aushalten schon andeutet): nur wenn es sein muss, und zweitens: nur bis zu einem gewissen persönlichen Belastungsgrad.

Drittens, und das ist nun gar nicht verhandelbar: Wir müssen es verstehen und einordnen können, wir müssen uns diese innere “Unstimmigkeitsspannung” mit irgendeiner dahinter oder darüber stehenden Ordnung erklären können. Wir können Chaos nur aushalten, weil sie Bestandteil einer umfassenderen Ordnung ist, unerträgliche Spannungen nur, weil die Aussicht auf Entspannung besteht und die Koexistenz von höchstem Glück und schlimmstem Unglück nur deshalb, “weil halt beides zum Leben gehört” und wir damit das eigentlich Unaushaltbare in einer darüberstehenden Ordnung “stimmig” gemacht haben.

Das Erfordernis der Stimmigkeit speziell für die Psyche ist so elementar und auch so vielschichtig, dass die Psychologie gleich ein kleines Arsenal an unterschiedlichen Begriffen und Ansätzen auffährt, um dieses Phänomen zu fassen zu bekommen:

Kongruenz ‒ die innere sowie kommunikative “Stimmigkeit” von Carl Rogers

Mit Kongruenz bezeichnete Carl Rogers im engeren Sinne die echte, ehrliche, wahrhaftige Haltung des Therapeuten dem Klienten gegenüber und im weiteren Sinne die Übereinstimmung dessen, was ein Mensch in seinem bewussten Erleben zulässt und auch nach außen zeigt, mit seinen echten Empfindungen, Gefühlen und Gedanken (#4 Persönlichkeitsentwicklung und persönliches Wachstum – praktische Ansätze in Psychologie und Psychotherapie. Und eine neu entwickelte Selbstführungsmethode). Kongruenz bezieht sich somit gleichzeitig auf eine “innere” wie auf eine nach außen gerichtete, “kommunikative” Stimmigkeit und hat damit auch eine große Nähe zur “Authentizität” (#7 Bausteine der persönlichen Identität: Bewusstsein, Selbstkenntnis und Selbstwert).

Kohärenz ‒ das Salutogenese-Konzept von Antonovsky

Die Kohärenz schließlich ist vor allem aus der Salutogenese von Antonovsky bekannt. Nicht zuletzt aufgrund persönlicher Erfahrungen (er überlebte jahrelang die Konzentrationslager der Nazis) erforschte er gezielt die Resilienz und speziell die “Widerstandsressourcen”, die einen Menschen befähigen, auch Höchstbelastungen zu überstehen und das Vertrauen zum Leben, dessen Sinn und der eigenen Selbstwirksamkeit nicht zu verlieren. Diese “generalisierte Widerstandsressource”, wie er sie nannte, fand er in einer Einstellung, die er den “Kohärenzsinn” nannte.

Mit dem Begriff des Kohärenzsinns beschreibt Antonovsky eine Sicht auf die Welt, die auf einem grundlegenden Vertrauen in die Verstehbarkeit, die Bewältigbarkeit und die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens beruht.

  • Verstehbarkeit meint, dass unser Leben, die Welt und ihre ‒ inneren wie äußeren ‒ Ereignisse für uns nachvollziehbar und verständlich sind, und damit auch in einem gewissen Maß vorhersehbar
  • Die Bewältigbarkeit (oder Machbarkeit) ist die zweite Komponente. Sie ist hoch ausgeprägt, wenn wir darauf vertrauen, genügend innere oder äußere Ressourcen zur Verfügung zu haben, um die Anforderungen unseres Lebens zu bewältigen.
  • Die dritte und nach Antonovsky wichtigste Komponente des Kohärenzsinns ist die Sinnhaftigkeit oder Bedeutsamkeit. Hier geht es um die Bewertung der Anforderungen, die wir zu bewältigen haben, als lohnenswert. Der Begriff lohnenswert meint die Bedeutung des eigenen Handelns: es ist nicht egal, ob ich etwas tue oder nicht. Mein Handeln lohnt sich, weil die Anforderungen, Probleme und Ziele die Anstrengung wert sind – weil sie mir sinnvoll erscheinen.

Die 3 von mir verwendeten Rubriken “Bewusstsein”, “Ressourcen” und “Sinn” (s.o.) sind nicht vom Salutogenese-Modell abgeleitet, weisen aber eine hohe Übereinstimmung mit diesem auf. 

Konsistenz ‒ das “übergeordnete“ Systembedürfnis von Klaus Grawe 

Konsistenztheorien sind im Prinzip alle psychologischen Theorien, die das Bedürfnis und Streben der Psyche nach Stimmigkeit, Verträglichkeit oder Harmonie in Bezug auf alle Komponenten des psychischen Erlebens (Wahrnehmungen, Emotionen, Erinnerungen, Einstellungen, Urteile, Bedürfnisse, Motive) erklären. 

Eine große, wegweisende Bedeutung kommt dabei der Gestaltpsychologie zu, die bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts im Bereich der menschlichen Wahrnehmung das zwingende Streben nach einem stimmigen, in sich geschlossenen und harmonischen Ganzen nachweisen konnte.

Stell dir vor:

Du bist mit deiner Partnerin abends für einen Konzertbesuch verabredet, auf den ihr euch beide schon seit langem riesig freut. Am selben Tag willst du vorher noch am Feinschliff für den Vortrag arbeiten, den du am nächsten Tag vor einem hochkarätigen Fachpublikum halten und der über deine Aussichten auf eine begehrte Stelle entscheiden wird. Da ruft dich (nach Jahrzehnten) eine alte, früher sehr geliebte Freundin an (auf welche deine Partnerin schon damals eifersüchtig war). Du willst dich mit ihr treffen ‒ das geht jedoch nur heute, da sie morgen früh schon wieder abreisen muss. 

Dir ist klar, dass du dich entscheiden musst … und dir wird angesichts dieser gesamten Entscheidungssituation regelrecht schlecht vor Anspannung und Verwirrung. Du entscheidest dich schließlich ‒ du verabredest dich mit deiner alten Freundin, sagst das Konzert ab, bekommst einen Riesenkrach mit deiner verletzten und eifersüchtigen Partnerin. An eine konzentrierte Ausarbeitung des Vortrags ist nun gar nicht mehr zu denken und selbst das Treffen mit deiner alten Freundin verläuft den Voraussetzungen gemäß angespannt und enttäuschend. 

Welche Gelegenheit hatte sich allen beteiligten Bedürfnissen geboten, auf vielversprechende Weise erfüllt zu werden ‒ EINZELN gesehen. Und welchen Stress, welchen Frust, welche Nichterfüllung rundum löste einfach nur ihr zeitlich-situatives Zusammentreffen aus!

Das “Systembedürfnis nach Konsistenz”. 

Es war vor allem der Psychotherapieforscher Klaus Grawe, der die herausragende Bedeutung des Zusammentreffens aller vorhandenen Bedürfnisse in einem System, einer Situation, einer menschlichen Persönlichkeit erkannte und auf ihren Stellenwert im Systemganzen hinwies. Er nannte diese Notwendigkeit, dass die Prozesse der Bedürfnisbefriedigung, da sie nicht (nur) einzeln und für sich funktionieren können, darüber hinaus miteinander abgestimmt, d. h. laufend koordiniert werden müssen, das „Systembedürfnis nach Konsistenz“. Grawe stellte dieses zwingende Erfordernis als eine Grundlage psychischen Funktionierens überhaupt, in seiner Bedeutung und Priorität sogar über die Erfüllung der einzelnen Grundbedürfnisse. 

Aus Grawes Sicht gibt es 4 psychische Grundbedürfnisse: 

  1. das Bindungsbedürfnis 
  2. das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
  3. das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle sowie 
  4. das nach Selbstwerterhöhung und -schutz. 

Allerdings agieren diese 4 Grundbedürfnisse parallel zueinander und damit teilweise auch konträr, chaotisch und miteinander im Konflikt. Dies versetzt das psychische System in eine zusätzliche, „sekundäre“ Spannung: es muss die beteiligten Bedürfnisse nicht nur einzelnen befriedigen, sondern auch noch unter einen Hut bringen! Was, wie das Beispiel oben zeigt, gründlich misslingen kann: alle (jeweils für sich gesehen: wichtigen und drängenden) Bedürfnisse können nicht parallel und miteinander erfüllt werden − und die (genau dadurch entstandene) zusätzliche Spannung der Inkonsistenz führt das System in einen Zustand, in dem es keines der einzelnen Bedürfnisse mehr erfüllen kann.

Und da wir − der Organismus und die Psyche insgesamt, aber viel mehr noch: unser Bewusstsein bzw. unsere Ich-Identität − nur ein bestimmtes Maß an innerer Spannung aushalten können (und das auch nur eine begrenzte Zeit), hat es in Spannungssituationen für uns erste Priorität, die akute Inkonsistenz-Spannung herunterzufahren. Was bedeutet: entweder den Konflikt zu entschärfen und die Bedürfnislage zu „unter einen Hut zu bringen“ oder: diese Spannung nicht spüren und aushalten zu müssen, d. h.: sie zu verdrängen. 

Konsistenz und Gesundheit. Übertragen wir nun ‒ und das ist m. E. sehr plausibel ‒ das Prinzip der Konsistenz von den Grundbedürfnissen auf das psychische bzw. organismische Erleben insgesamt, so bedeutet Konsistenz, dass sämtliche Teilsysteme, Ebenen und Erfahrungen unseres hochkomplexen Organismus zusammenpassen und als ein integriertes System innerhalb eines bestimmten Fehlertoleranz- und Schwankungsbereichs zusammenarbeiten und zusammen funktionieren müssen. 

Dieser Zustand der Konsistenz, dieser Grad an innerer Konsistenz drückt sich unmittelbar im Zustand der seelischen Gesundheit aus ‒ beide Zustände hängen eng zusammen und bedingen sich gegenseitig.

Werte

Vom Sinn war bereits öfters die Rede bisher ‒ kaum ein bislang beleuchtetes Einzelthema, das nicht früher oder später, stärker oder schwächer, direkt oder indirekt am “Sinn” und seiner Bedeutung für die seelische Gesundheit angedockt hätte. Betrachten wir nun den “Lebenssinn” genauer in Bezug auf seine Zusammensetzung, auf seine einzelnen, auch lebensbereichsbezogenen und handlungsrelevanten Bestandteile, so gelangen wir direkt zu den persönlichen Werten. 

Wie für viele andere Begriffe aus dem Bereich des inneren Erlebens gibt es auch für „Werte“ keine exakte Definition, sondern meist eine (mehr gefühlte als rational abgegrenzte) zentrale Bedeutung innerhalb eines etwas schillernden Verständnisrahmens. Hier sticht die ‒ stark wertebasierte ‒ Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) mit einem plausiblen und stimmigen Konzept heraus, welches die Rolle der persönlichen Werte in ihrer Funktion für das Lebensganze und im Bezug zum eigenen Handeln klar beschreibt:

„Werte sind Aussagen über das, was wir mit unserem Leben anfangen möchten: wofür wir uns einsetzen und wie wir uns grundsätzlich verhalten wollen. Sie stellen die Leitprinzipien dar, an denen wir uns orientieren und die uns motivieren.“ (Russ Harris)

Eigenschaften von Werten

Werte lassen sich im Ansatz der ACT vor allem durch die folgenden Komponenten beschreiben:

  • Positive und erstrebenswerte Qualitäten. Werte sind zunächst … eben: wertend, d. h. sie bezeichnen eine positive, anzustrebende oder auch negative, (als „Unwert“) zu vermeidende, Qualität. Darüber hinaus drückt ein Wert eine umfassende, ziel- und handlungsoffene Qualität aus: z.  B. beschreibt der Wert, „ein guter, verantwortungsvoller Vater zu sein“, eine ganze Kategorie möglicher Handlungen und Ziele, die jedoch alle auf dieses zentrale Charakteristikum bezogen sind. 
  • Bezug zum eigenen Handeln. Werte sind Leitlinien unseres Handelns, die wir wählen, für die wir uns entscheiden und an denen wir unser Handeln orientieren. Werte sind sowohl handlungswirksam, indem sie uns motivieren als auch handlungsleitend, indem wir Handlungsziele davon ableiten können. Dennoch können Werte nie endgültig verwirklicht werden, sondern bleiben immer Annäherungsgrößen, bildlich gesprochen: die „Leuchttürme“ unserer Orientierung. 
  • Bewusst und gewählt. Werte haben in ihrem offenen, motivierenden, handlungsleitenden Charakter eine große strukturelle Ähnlichkeit mit den Grundbedürfnissen. Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass die Grundbedürfnisse zutiefst in unserem organismischen Ganzen verwurzelt sind und unser vitales, körperliches, biologisches und unbewusstes „Automatikgetriebe“ darstellen, während die Werte der bewussten, individuellen, frei wählenden Zone unserer Persönlichkeit entstammen, also sozusagen die Bedürfnisse des Organismus „nach oben hin“, auf der Ebene der bewussten Lebensentscheidungen, ergänzen und abrunden. 
  • Gegenwärtigkeit. Werte sind – aufgrund ihrer zeitlosen Gültigkeit und Handlungsbezogenheit – stark mit dem Hier und Jetzt verknüpft. Die Entscheidung, werteorientiert zu handeln oder relevante Werte zu missachten, fällt immer in der Gegenwart. Natürlich werden zukunftsbezogene Ziele von den Werten abgeleitet, keine Frage, diese konkreten und spezifischen Ziele sind aber nicht mit ihren “Quellwerten” identisch, sondern haben ihre eigene Qualität und Realität. Im Unterschied zu den zukunftsgerichteten Zielen geben uns unsere Werte diese allgmeingültige, prinzipielle, „immer“ geltende Orientierung, die sich auf das gegenwärtige Handeln direkt beziehen kann. Darin ist auch die hohe und positive Qualität des Lebensgefühls begründet, im Einklang mit den eigenen Werten zu leben.

Die (idealerweise bewusst gewählten und reflektierten) Werte bilden also, zusammen mit den angeborenen organismischen Grundbedürfnissen die Plattform, von welcher aus wir unser Leben “entwerfen und schaffen”, steuern und leben. Womit auch ‒ gerade! ‒ unsere Werte maßgeblich an der Qualität des Lebenssinns und der seelischen Gesundheit und letztlich an Glück und Erfüllung im eigenen Leben beteiligt sind.

Literatur

Rogers, C. R. (2009): Eine Theorie der Psychotherapie. Ernst Reinhardt Verlag, München

Grawe, K. (1998), Psychologische Therapie. Hogrefe Verlag, Göttingen

Schnell, T. (2016): Psychologie des Lebenssinns. Springer-Verlag Berlin Heidelberg

Harris, R. (2011): ACT leicht gemacht. Arbor-Verlag, Freiburg

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