#7 Bausteine der persönlichen Identität: Bewusstsein, Selbstkenntnis und Selbstwertausteine der persönlichen Identität: Bewusstsein, Selbstkenntnis und Selbstwert

Selbstorganisation des inneren Erlebens ‒ das Attraktormodell der Synergetik im Bereich der Psychologie

August 8, 2022

 Seelische Gesundheit ist ein komplexer Zustand, die vom Zusammenspiel verschiedener Faktoren und Bedingungen abhängt. Ein maßgeblicher, wenn nicht sogar DER zentrale Faktor ist die “Identität” im Sinne der bewussten (einschließlich gefühlten) Wahrnehmung, wer man ganz persönlich IST. Identität, verstanden als Mix aus laufender neuer Selbsterfahrung und einer gewachsenen, strukturierten und sich permanent weiter entwickelnden Persönlichkeit. Als ein kontinuierliches und gleichzeitig immer wieder neu und anders erlebtes “Das bin ich, will ich, kann ich und tue ich”. Kontinuierlich im Sinne eines gleichbleibenden, schon immer da gewesenen “Das bin ich”-Kerns, der von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter alle Phasen, Entwicklungen und Veränderungen in einem durchgängigen Ich-Bewusstsein verbindet und zusammenhält. 

Im Zusammenhang mit seelischer Gesundheit und persönlichem Wachstum sind nach meiner Auffassung 3 Aspekte der Identität von besonderer Bedeutung:

  1. das Bewusstsein (gezielt angewendet als Achtsamkeit und Präsenz im Lebensalltag)
  2. die Selbstkenntnis (das Ergebnis laufender Selbsterfahrung, Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung, das sich auch als persönliche Authentizität ausdrückt)
  3. der Selbstwert (ein positive Selbstwertgefühl, beruhend auf Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen und sozialer Kompetenz)

1 Bewusstsein, Achtsamkeit und Präsenz im Alltag

Als ersten Baustein der persönlichen “Identität” schauen wir uns das Bewusstsein näher an und zwar, da in unserem Erleben letztlich alles auf das “Ich” als erlebende Bezugsgröße bezogen ist: das “Ich-Bewusstsein”. Mit diesem “Prachtstück in der Kathedrale des Organismus”, mit diesem (zumindest technischen) Meisterwerk der Evolution hat uns die Natur mit der Fähigkeit ausgestattet, Teile und Aspekte unseres “Lebens” ausschnittsweise als Er-”Leben” im Bewusstsein nachzubilden und dieses dort, sozusagen auf einer virtuellen Parallelspur, kreativ zu bearbeiten (“ok, so ist es mir jetzt ergangen … wie finde ich das und wie will ich das ändern?”) und wieder neu in das reale Leben einzuspeisen, um sich damit selbst weiter durch sein Leben zu steuern. Das alles natürlich in einer hoch abgestimmten Zusammenarbeit mit den Gedächtnissystemen und (vor allem) mit dem Organismus, der “den inneren Laden” jederzeit psychisch genauso verlässlich zusammenhält ‒ und gesund erhält ‒ wie der Körper seine komplexen Funktionssysteme (näher erläutert in #6 Wie wir ticken – Erleben, Bewusstsein und psychische Selbstorganisation).

Aufmerksamkeit

Angewandtes praktisches Bewusstsein, Bewusstsein live, Bewusstsein bei der Arbeit heißt: Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit, ob achtsam und gezielt oder automatisch und auf Auto-Pilot, ob selbst- oder fremdgesteuert, ist die wichtigste Ressource unseres Bewusstseins, weil unser Leben hier und jetzt ‒ und wir leben nur hier und jetzt ‒ genau da passiert, wo unsere Aufmerksamkeit gerade ist.

Und: die Energie folgt der Aufmerksamkeit, d. h. wir agieren naturgemäß immer im Zusammenhang mit dem Ausschnitt unseres Erlebens, worauf unsere Aufmerksamkeit gerade gerichtet ist. Die Aufmerksamkeit ist das “Nadelöhr”, durch welches jegliches Erleben hindurch muss, um überhaupt bewusstes Erleben zu sein. Und sie ist eine äußerst knappe Ressource, denn das Bewusstsein muss sie ständig sowohl mit dem Organismus wie auch der Reizüberflutung von außen teilen. 

Die Aufmerksamkeit muss also gesteuert, rationiert, zugeteilt werden. Und zwar laufend. Dafür muss die Ich-Zentrale jedoch wissen, wo sie sich gerade “herumtreibt” und wer oder was sie gerade belegt. Und mit der bewussten und willentlichen Steuerung der Aufmerksamkeit sind wir beim großen Thema “Achtsamkeit” angekommen. 

Achtsamkeit und Präsenz

Das Schlüsselthema “Achtsamkeit” ist inzwischen so intensiv und nachhaltig in unsere westliche Kultur eingedrungen und es wurde und wird dazu auf allen Medienkanälen so viel publiziert, dass ich hierzu nur ergänzend auf meinen Artikel #5 Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Akzeptieren – 3 zusammenhängende Schlüssel zu einem guten und erfüllten Leben verweise. An dieser Stelle möchte ich nur den folgenden Aspekt zur Praxis der Achtsamkeit ansprechen: 

Die Übernahme der Achtsamkeitspraxis aus der östlichen Geisteskultur hat auch etwas dazu verführt, die kontemplative und “achtsam passive” Grundhaltung als typischen Bestandteil der östlich-asiatischen Praxis ebenfalls mit ins Gepäck der westlich praktizierten Achtsamkeit zu nehmen. Nun ist es keine Frage, dass die Fähigkeit zu einem kontemplativen Rückzug in sich selbst gerade den westlichen Menschen mehr als guttun würde. Aber: die westliche Kultur IST alles andere als kontemplativ und innenbezogen. Und die westlichen Menschen sind es insgesamt auch nicht. Die Realität in den westlichen Industrieländern ist von einer einseitigen und massiven “Veräußerlichung” mit Begleiterscheinungen wie Materialismus und Konsumfixierung, Stress, Hetze und Überforderung geprägt und eben nicht von kontemplativem Rückzug. Das bedeutet aus meiner Sicht für die ‒ so enorm wichtige ‒ Praxis der Achtsamkeit, dass sie sich zumindest nicht in einem selbstversunkenen, etwas böse gesagt: “Om-seligen” Rückzugsritual erschöpfen, sondern als wache und lebenszugewandte Präsenz mit in das konkrete, alltägliche, und mitunter halt auch: gestresste und unglückliche Leben mitgenommen und genau da und dann praktiziert werden sollte. Wo sie als ‒ eben „nicht wählende“ ‒ Achtsamkeit auch mal weh tun, verdrängtes Unglück aufdecken und die Sicht auf das Leben desillusionieren kann.

Diese aktive, entscheidungs- und verantwortungswillige, ins Leben hineinspringende Seite der Achtsamkeit ist (neben der passiven, kontemplativen, tendenziell auf Distanz zum Erleben gehenden Seite) eine ebenso wertvolle Kompetenz für die an seelischer Gesundheit orientierten Selbstfürsorge, vorzugsweise da, wo das Leben mit wichtigen Themen anklopft, im positiven (Lebensgenuss, Stärken etc.) wie auch im negativen Sinne (Problembewältigung).

Deshalb benutze ich neben dem (konkurrenzlos gut eingeführten) Begriff der Achtsamkeit auch gerne den der “Präsenz”, um mit diesem den wichtigen aktiven, selbstverantwortlichen, unmittelbar lebenszugewandten Aspekt der Achtsamkeit auszudrücken. Oder, um es mit einer doppelten Metapher zu sagen: dem “inneren Beobachter” wird, bevor er auf seinem Wölkchen der Glückseligkeit einschläft, der “innere Regisseur” mit seinen aufgekrempelten Ärmeln zur Seite gestellt.   

2 Selbstkenntnis und Authentizität

Selbsterfahrung und Selbstkenntnis

Während die Themen “Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit etc.” um Funktionen und Methoden, also um das “wie” kreisen, geht es bei der – durch laufende Selbsterfahrung sich entwickelnden – Selbstkenntnis um das “was”. Um all das, was die achtsame Selbstwahrnehmung sowie das wache Selbstgespür an persönlichem Erleben und Einsichten in unsere individuelle Natur ins Bewusstsein hebt, reflektiert und zu einem persönlichen Selbstbild zusammensetzt.

Um das also, was die legendäre Inschrift am Eingang zum Orakel von Delphi, der Weissagungsstätte des antiken Griechenland, in drei Worten und mit einer nicht zu übertreffenden Präzision auf den Punkt bringt: erkenne dich selbst!

So wichtig Achtsamkeit und eine wache Selbst- und Außenwahrnehmung sind ‒ das reicht nicht aus. Was achtsam wahrgenommen wurde, muss auch verstanden und eingeordnet werden können. Vor allem, wenn es um das eigene innere Erleben geht. Und dieses ist naturgemäß vielschichtig, in sich widersprüchlich, in großen Teilen unbewusst, das heißt: dem Verständnis oft nur ahnungsweise, gefühlt oder auch gar nicht zugänglich. Sich selbst kennenzulernen ist ein lebenslanger Prozess, der auch die eigene laufende Entwicklung und Veränderung mit einschließt ‒ und dieser gelegentlich auch erst einmal hinterherkommen muss. 

Dabei werden diese laufenden Selbsterfahrungen nicht einfach mal eben so gemacht und den vorhandenen zugefügt, sondern müssen von der Psyche in die vorhandene, in sich abgestimmte Identität eingebaut werden, d. h. passend und stimmig gemacht werden. Die persönliche Identität, das Selbst- und Weltbild müssen laufend “aktualisiert” werden, was immer wieder zu Widersprüchen, schmerzhaften Spannungen, kleinen und großen Krisen und in der Folge zu Abwehr und Verdrängung, aber auch zu produktiver Veränderung und Wachstum führen kann. 

Selbstaktualisierung

Carl Rogers, bedeutender Vertreter der Humanistischen Psychologie und Begründer der Klientenzentrierten Psychotherapie bzw. Gesprächsführung hat diesen Prozess der ständigen Integration von neuen (Selbst)Erfahrungen im eigenen Selbst- und Weltbild “Selbstaktualisierung” genannt. 

Dabei geht diese laufende “Selbstaktualisierung” über eine nur reaktive Verarbeitung neuer Erfahrungen weit hinaus. Sie umfasst auch und vor allem die organismische, und damit inbegriffen: die psychische Tendenz, sich zu entwickeln und zu wachsen, die eigenen Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten zu entdecken, zu entfalten und zu verwirklichen. Damit sind wir bei einer elementaren und intrinsischen (= eigenständigen, dem Menschen innewohnenden) Antriebskraft der menschlichen Seele angelangt: 

  • dem Streben nach authentischem Selbsterleben, 
  • nach kreativem Ausdruck der eigenen ganzheitlichen Persönlichkeit 
  • und nach (im Handeln vollzogener) Selbstverwirklichung.

Authentizität

Authentisch zu sein bedeutet im Kern: mit sich übereinstimmen, mit sich selbst im reinen sein, das eigene Erleben, Denken und Fühlen, so wie wir es “original” und unverfälscht in uns erleben, zulassen und annehmen können. Und: dies auch offen, ehrlich und im Einklang mit uns selbst ‒ soweit es die Umstände erlauben ‒ nach außen zeigen zu können. Eine Person mit der Fähigkeit, zu sich und ihrer Eigenart, ihren Stärken und Schwächen, stehen zu können, wirkt tendenziell entspannt, echt, ungekünstelt, offen. Eben: authentisch …

Was allerdings in diesem Steckbrief der “Authentizität” so überzeugend, selbstverständlich und nach “klar, was sonst?” klingen mag, ist leider für viele Menschen und in vielen Fällen weder selbstverständlich noch einfach. 

  • Zunächst kann es schwierig sein, den Zugang zum eigenen echten Erleben zu finden, z. B. wenn dieses von Schmerz-, Scham- oder Angstgefühlen blockiert ist oder wenn man es schlicht nicht gelernt hat, weil beispielsweise der Kontakt mit den eigenen authentischen Gefühlen tabuisiert wurde (“nur Weicheier zeigen Gefühle”). Leider geschieht es häufig, dass Menschen bereits im frühen Kindesalter so sehr in ihren kindlichen Grundbedürfnissen frustriert werden, dass sie bestimmte ursprüngliche Bedürfnisse und Gefühle abspalten, d. h. ihrem bewussten Erleben fernhalten müssen, um überhaupt mit sich klarzukommen. 
  • Und nicht zuletzt werden wir m. E. von einem zunehmend außer Kontrolle geratenden Turbokapitalismus samt Konsumdruck und Konsumverführung, samt Reiz- und Medienüberflutung, so massiv in ein profitgetriebenes Hamsterrad der Hochleistung und Selbstausbeutung eingespannt (und gleichzeitig so raffiniert vom überreichlichen Konsumangebot verführt ‒ weshalb das Ganze ja auch so zwingend funktioniert), dass wir uns, ohne es richtig mitzubekommen, immer stärker von unserer eigenen (biologisch-organismisch gewachsenen) Natur entfremden. Und diese Entfremdung von sich selbst ist so ziemlich genau die Gegentendenz zur authentischen Selbstfindung und Selbstverwirklichung. 

Selbstverwirklichung

Dieses sehr gehaltvolle, sehr gesundheits-, glücks- und erfüllungsnahe Wort drückt zunächst eines der elementarsten Grundbedürfnisse überhaupt aus. Wie alles, was lebt, wird auch der menschliche Organismus körperlich, seelisch und geistig gleichermaßen von dieser Urspannung des Lebendigen, diesem Drang nicht nur zum Selbsterhalt und Überleben, sondern zu Selbstentwicklung und Wachstum, zur Umsetzung und Verwirklichung des angelegten eigenen Potenzials angetrieben. Leben IST Entwicklung, Weiterentwicklung und Selbstentfaltung, wo immer diese auch hinführen mag. 

So steht “Selbstverwirklichung” einerseits für dieses mächtige biologische Programm, welches das “Ich” mit einem lebenslangen Verwirklichungsauftrag auf die Reise schickt und andererseits für den Prozess und die Umsetzung selbst. Dafür, wie sehr es gelingt, die oben skizzierte “Authentizität” zu entwickeln, zu kultivieren und: in reales Leben zu gießen, im ziel- und sinngerichteten Handeln umzusetzen. Und dafür, wie sehr es gelingt, eine laufende “Selbstaktualisierung” in unserer Persönlichkeitsentwicklung zum roten Faden der Lebensgestaltung werden zu lassen, sodass wir uns schließlich im verwirklichten Leben selbst, und das in einem möglichst authentischen und erfüllenden Sinn, wiedererkennen können.

Selbstwert 

Klaus Grawe, ein bedeutender und leider früh verstorbener Psychotherapieforscher, formulierte mit den 4 psychischen Grundbedürfnissen ein Modell, das inzwischen zu einem führenden Standard geworden ist. Eines dieser 4 Grundbedürfnisse ist das nach “Selbstwerterhöhung” (= das eigene Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein erhalten, schützen, aufbauen und stärken) ‒ was den enormen Stellenwert des Selbstwerts für unser seelisches Gleichgewicht deutlich ausdrückt. 

In unserem Selbstwertgefühl drückt sich der Wert aus, den wir uns selbst geben ‒ und zwar nicht irgendetwas an uns, sondern uns selbst im Kern und zur Gänze. Es zeigt, in welchem Maß wir uns grundsätzlich und bedingungslos in Ordnung und liebenswert finden und unsere Stärken, aber auch Defizite und Grenzen annehmen können. Ein intaktes Selbstwertgefühl bzw. Selbstbewusstsein signalisiert uns, dass wir uns gut und berechtigt damit fühlen, wie wir ‒ so wie wir sind ‒ unseren Platz im Leben und der sozialen Gemeinschaft einnehmen. Und erwarten können, angenommen, respektiert und gemocht zu werden, einfach, weil wir die sind, die wir sind. 

Die Bedingungen und Bestandteile des persönlichen Selbstwerts werden oft in Säulenmodellen dargestellt:

Die 6 Säulen des Selbstwertgefühls nach Nathaniel Brandon z. B. enthalten 

  1. Bewusstes Leben 
  2. Selbstannahme
  3. Eigenverantwortliches Leben
  4. Selbstsicheres Behaupten der eigenen Person
  5. Zielgerichtetes Leben und 
  6. Persönliche Integrität

Das 4 Säulen-Modell der Psychologinnen Friederike Potreck-Rose und Gitta Jacob legt dem Selbstwert die folgenden 4 Säulen zugrunde:

  1. Selbstakzeptanz (die positive Einstellung zu sich selbst als Person)
  2. Selbstvertrauen (die positive Einstellung zu den eigenen Fähigkeiten und Leistungen)
  3. soziale Kompetenz (das Erleben von Kontaktfähigkeit) und 
  4. das soziale Netz (das Eingebundensein in positive soziale Beziehungen).

Ein intakter Selbstwert bzw. (im Defizitfall) die bewusste und zielgerichtete Arbeit an der Entwicklung eines positiven, gesunden Selbstwertes ist absolut essenziell für die seelische Gesundheit und direkt mit ihr gekoppelt.

Eine Darstellung der zweiten Rubrik der Faktoren und Bedingungen seelischer Gesundheit, nämlich der “Ressourcen”, findest du unter #8 Ressourcen des persönlichen Wachstums: Resilienz, Gelassenheit und Weisheit

Könnte dir auch gefallen…

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner